Bereits die Frage, was unter „digitaler Welt“ zu fassen ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. So soll einerseits Digitalisierung einen andauernden Prozess sozialer und kultureller Transformation bezeichnen. Andere Stimmen wiederum erachten die These eines „digitalen Wandels“ für eine unnötige Hypostasierung und betonen die technologischen Kontinuitäten, sodass sie sich bereits in einer postdigitalen Zeit sehen.
Als Erfahrungsphilosophie nimmt die Phänomenologie zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion, was und wie etwas uns erscheint. Die Lebenswelt bietet dabei den Horizont aller Sinnstiftungen und der Dimensionen ihres Verstehens. Unter Bedingungen der „digitalen Welt“ sieht sich phänomenologisches Philosophieren vor eine Herausforderung gestellt. Denn einerseits scheint sich die Erfahrung zu verdoppeln oder zu vervielfältigen (Hybridität, virtuelle Doppelgänger, social bots) und andererseits die Lebenswelt zu verflüchtigen (Körperlosigkeit, Filterblasen, Konnexionen statt Intentionen).
Angesichts dieses gerade begrifflich noch unübersichtlichen Terrains bietet es sich an, aus phänomenologischer Perspektive sich sowohl den Phänomenen der digitalen Lebenswelt zu nähern, als auch die überkommenen Begriffe und Vorgehensweisen der Phänomenologie erneut auf ihre Tragfähigkeit und ihre Weiterentwicklung zu prüfen.
Call for papers
Die Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Forschung veranstaltet ihre Frühlingsschule vom 28. bis zum 30. Juni 2022, um Begriffsarbeit, Phänomenbeschreibung und Erfahrbarkeit der digitalen Welt gemeinsam zu betrachten.
Insbesondere folgende drei Themenfelder sollen adressiert werden (beschränkt sich allerdings nicht darauf):
(1) Grundbegriffe der digitalen Welt: Welche Begriffe erweisen sich als brauchbar für einen Zugriff auf die digitale Welt? Wie müssen sie umgearbeitet werden? Welche Rolle spielen phänomenologische Terminologie und Methodologie? Zu den Quellen gehören neben den klassischen technikphänomenologischen Denker*innen (Heidegger, Merleau-Ponty, Blumenberg, Derrida) auch die Zeitgenoss*innen aus responsiver Phänomenologie oder Postphänomenologie (Waldenfels, Meyer-Drawe, Ihde, Verbeek).
(2) Die digitale Welt und ihre Technologien: Wie wirken digitale Technologien lebensweltlich? Wo und wie greifen sie in Strukturen der Lebenswelt ein und modifizieren sie? Wie kann die Phänomenologie mit Technologien umgehen, deren Vollzug gerade nicht erscheint: künstliche Intelligenz, Maschinenlernen, selbstlernende Algorithmen, digitale Medien, Virtualität, Roboter, Neuroenhancement...?
(3) Erfahrung(en) in der digitalen Welt: Wie lässt sich die Erfahrbarkeit der digitalen Welt näher beschreiben? Modifiziert der „digitale Wandel“ unsere Konzeption von Erfahrung per se? Ausgangsmöglichkeiten bieten etwa Diskurse um die Mensch-Maschine-Interaktion, Mensch-Technologie-Relation, Multistabilität, den digitalen Habitus oder auch das Self-Tracking.
Keynotes: Thomas Fuchs (Heidelberg), Christina Schües (Lübeck/Lüneburg)
Wir laden zur Einsendung von Abstracts mit max. 500 Wörter ein. Die Deadline für Einreichungen ist der 31. Dezember 2021. Die Einsendeadresse lautet: selin.gerlek@fernuni-hagen.de
Die Frühlingsschule wird auf dem Campus der FernUniversität stattfinden.
Sie wird in Kooperation mit dem Forschungsschwerpunkt digitale_kultur veranstaltet, der in Verschränkung mit der Frühlingsschule seine Jahrestagung abhalten wird. Da diese unter dem Titel „Digitale Hermeneutik“ stehen wird, ergänzen sich beide Veranstaltungen thematisch. Eine Teilnahme an beiden Veranstaltungen ist organisatorisch möglich und inhaltlich gewünscht.
Weitere Informationen zur Jahrestagung finden Sie hier.