Phänomenologie der digitalen Welt

Sommerschule der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung

Repository | Buch | Kapitel

216157

Erwägen oder entscheiden — über den (un-)heimlichen Dezisionismus der Wissenschaft

Frank Benseler

pp. 27-35

Abstrakt

Max Webers berühmte Rede über "Wissenschaft als Beruf"1 ist in einer Beziehung von konsequenter Inkonsequenz. Wenn nämlich "wertfreie Wissenschaft", besser: ihre Konstitution in methodischer Abstinenz von Wertungen, gesucht und in rationaler, auf rein sachliche Gründe gestützter Wahrheitssuche gefunden wird. Einerseits kommt es danach darauf an, in entsagungsvoller Arbeit ausschließlich der Sache der Wissenschaft zu dienen, in intellektualistischer Rationalität also dem Fortschritt, der — wenn auch notwendig binnen kurzer Zeit jeweils überholt — insgesamt darin gesehen wird, die Natur durch Berechnung beherrschen zu können. Andererseits soll dieser Prozeß nicht vorangehen, ohne daß seine Betreiber mit Leidenschaft beteiligt sind, von "Eingebungen" "auf dem Boden ganz harter Arbeit" sogar "berauscht". Weber fragt, ob das, was bei wissenschaftlicher Arbeit herauskommt, auch wissenswert sei und antwortet klar: dies sei im Sinne wissenschaftlichen Beweises nicht der Fall. Diese Frage "läßt sich nur auf ihren letzten Sinn deuten, den man dann ablehnen oder annehmen muß, je nach der eigenen letzten Stellungnahme zum Leben." Es finden sich in diesem Zusammenhang bei Weber — über den Abstand von fast 75 Jahren — durchaus aktuelle Beispiele: Die medizinische Wissenschaft kümmere sich darum, Leben zu erhalten. Aber "ob das Leben lebenswert ist und wann?, danach fragt sie nicht." Oder die Rechtswissenschaft: 'sie stellt fest, was nach den Regeln des juristischen Denkens gilt. Ob es Recht geben sollte, und ob man gerade diese Regeln aufstellen sollte, darauf antwortet sie nicht." Doch das sei auch verständlich, sagt Weber, denn es handele sich bei solchen Fragen um "verschiedene Wertordnungen der Welt", die in unlöslichem Kampf miteinander stünden. Wissenschaftlich sei da nichts zu entscheiden. "Hier streiten verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit.... Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine "Wissenschaft"". In diesen Fragen, so Weber, sind Werturteile Voraussetzungen für Wahl, für Entscheidung, fürDezision. "Der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist." Deutlich ist hier eine Aporie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, zwischen rationalem Verhalten und irrationaler Entscheidung gemeint, die Trennung nur instrumenteller Wissenschaft von einer irrational wertenden, nicht auf rationalem Grund entstehenden Entscheidung.

Publication details

Published in:

Benseler Frank, Greshoff Rainer, Blanck Bettina, Loh Werner (1994) Alternativer Umgang mit Alternativen: Aufsätze zu Philosophie und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Seiten: 27-35

DOI: 10.1007/978-3-322-91654-9_2

Referenz:

Benseler Frank (1994) Erwägen oder entscheiden — über den (un-)heimlichen Dezisionismus der Wissenschaft, In: Alternativer Umgang mit Alternativen, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 27–35.