Phänomenologie der digitalen Welt

Sommerschule der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung

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216166

Kant-Forschungen als Beispiel für selbstverschuldeten Methodenmangel

Werner Loh

pp. 215-240

Abstrakt

Menschen können sich im Weltraum bewegen, Gene können gezielt verändert werden und Computer können menschliche Konzepte wandeln. Folgt man dem vorherrschenden Wissen um die Menschheitsgeschichte, dann beginnen somit Menschen, den örtlichen, organischen und geistigen Rahmen ihrer bisherigen Geschichte zu verlassen. Sind aber die in der bisherigen Menschheitsgeschichte ausgebildeten geistigen Einstellungen mit ihren Orientierungen geeignet, zu diesen fundamentalen Herausforderungen Stellung zu nehmen, oder sind grundlegend neue Mentalitäten zu entwickeln? Kann man eine solche Frage überhaupt beantworten, wenn schon die Charakterisierungen von geschichtlichen Mentalitäten, wie sie z.B. in philosophischen Entwürfen zum Ausdruck kommen, außerordentlich kontrovers sind? Kants Kritische Philosophie ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Kant-Forscher haben sich bis in die Gegenwarthinein bezichtigt, den eigentümlichen CharakterdieserPhilosophie verfehlt zu haben. H. Cohen stellte 1871 fest: "Berühmte Forscher zeihen einander der Unwissenheit in Bezug auf die wichtigsten und die gemeinsten Sätze des Kantischen Systems"1. Fast hundert Jahre späterurteilte G. Lehmann über Cohen und andere Kant-Forscher: "Führende Vertreter des Neukantianismus und seiner ontologischen bzw. existenzphilosophischen Weiterbildung wählen Texte aus, verwerfen andere, interpretieren einseitig und gewaltsam; ihre Umakzentuierungen grenzen an Textverfälschungen. Von F. A. Lange, Cohen bis zu Heidegger, Krüger gibt es dafür viele Beispiele."2 Vor wenigen Jahren behauptete G. Prauss erneut und pauschal über die bisherigen Kant-Forschungen und ihre Literatur: daß die "entscheidenden Grundlagenfragen der Kantischen Philosophie doch nach wie vor offen sind. Denn immer wieder muß man sich dabei auch davon überzeugen, wie gründlich diese Literatur von vornherein den eigentümlichen Charakter dieser Philosophie verfehlt".3 Wer die Geschichte der Kant-Forschungen nur ein wenig verfolgt hat, den wird es nicht überraschen, in einer Rezension des Buches von G. Prauss, aus dem das angeführte Zitat stammt, zu lesen: Das Vorgehen von Prauss bestehe darin, "die Kantische Philosophie an den beiden Flanken der Ethik und der Erkenntnistheorie in Nonsens zu verzerren, und zwar so, daß die zweite Karikatur zur Rektifizierung der ersten dient".4

Publication details

Published in:

Benseler Frank, Greshoff Rainer, Blanck Bettina, Loh Werner (1994) Alternativer Umgang mit Alternativen: Aufsätze zu Philosophie und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Seiten: 215-240

DOI: 10.1007/978-3-322-91654-9_11

Referenz:

Loh Werner (1994) Kant-Forschungen als Beispiel für selbstverschuldeten Methodenmangel, In: Alternativer Umgang mit Alternativen, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 215–240.