Phänomenologie der digitalen Welt

Sommerschule der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung

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216162

Ideen zur Erhöhung des Theoretisierungsniveaus in den Sozialwissenschaften

Rainer GreshoffWerner Loh

pp. 99-123

Abstrakt

Die Vielfalt der Richtungen und Grundorientierungen in den Disziplinen des Sozialen wird angesichts der neuzeitlichen Erfolge von Physik, Chemie und Biologie als Konsequenz eines vergleichsweise geringeren wissenschaftlichen Niveaus eingeschätzt. Überanpassungen (z. B. Behaviorismus) sowie Abgrenzungen (z. B. Verstehen versus Erklären) waren und sind Reaktionsweisen auf diese Erfolge. Solange diese Erfolge nicht mit Hilfe von zu konstruierenden Alternativen vergleichend bewertet worden sind, besteht allerdings ein Begründungsmangel. Doch wie wären solche Alternativen zu konstruieren, wie zu vergleichen und zu bewerten? Die neuzeitlichen Wissensentwicklungen, die "wissenschaftlich" genannt werden, haben wenig Forschung auf diese Frage angewandt. Es ist nicht einmal klar, was als "Alternative" zu begreifen ist. Wenn es zur Wahrhaftigkeit gehören sollte, daß man auch Alternativen beachtet, dann sind diese zu erwägen und nicht wegen dominanter Ergebnisorientierung zu vernachlässigen. Neuzeitliche Wissensentwicklungen, die "wissenschaftlich" genannt werden, haben zugunsten der Erfolge das Problem der Erwägung von Alternativen vernachlässigt.1 Bindet man aber "Wissenschaftlichkeit" an "Wahrhaftigkeit", dann wären diese naturwissenschaftlichen Wissensentwicklungen nur mit Vorbehalt als "wissenschaftlich" zu bezeichnen. Paradoxerweise hätten die so erfolglosen Disziplinen des Sozialen mit ihrer Vielfalt gerade das, was jenen erfolgreichen Disziplinen vergleichsweise mangelt: die Repräsentation der Vielfalt, die auf ihre Altemativität hin zu untersuchen wäre. Die Disziplinen des Sozialen könnten sich somit unter der Idee der Erforschung der möglichen Umgangsweisen mit Alternativen2 von den irreführenden Vorbildern für Wissenschaftlichkeit emanzipieren und neue Ansprüche versuchen zu erproben, indem sie allerdings auch die brauchbaren Bestandteile dieser erfolgreichen neuzeitlichen Wissensentwicklungen aufzuheben trachten. Wissensverfassungen sind keine unwandelbaren Strukturen, sondern sie sind Folge von Erfindungen, vergleichbar den Erfindungen von Verkehrsregeln, die auch wieder zu verändern sind, wenn andere Erfindungen sich als geeigneter erweisen.

Publication details

Published in:

Benseler Frank, Greshoff Rainer, Blanck Bettina, Loh Werner (1994) Alternativer Umgang mit Alternativen: Aufsätze zu Philosophie und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Seiten: 99-123

DOI: 10.1007/978-3-322-91654-9_7

Referenz:

Greshoff Rainer, Loh Werner (1994) Ideen zur Erhöhung des Theoretisierungsniveaus in den Sozialwissenschaften, In: Alternativer Umgang mit Alternativen, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 99–123.